Project Description

Anstaltsscheune in Brandenburg/Havel, in der etwa 10.000 Menschen vergast wurden
* 29. August 1906
† 27. September 1940

Nürnberger Straße 24, Aurich

„Es gehen so allerhand Gerüchte um“

Resi Samson wird als Euthanasieopfer früh ermordet

Als Jüdin wäre Resi Samson irgendwann in die Fänge der Nationalsozialisten geraten. Als psychisch angeschlagene Frau gehörte sie allerdings schon zu den ganz frühen Opfern des Regimes. Ermordet wurde die damals 34-jährige Frau am 27. September 1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg/Havel. Die Auricherin wird in einer alten Scheune mit Kohlenmonoxid vergast. Sie gehört zu den rund 10.000 Euthansieopfern, die an diesem verborgenen Ort – einem ehemaligen Gefängnis – umgebracht wurden. Es sind behinderte und kranke Menschen, nur ein Teil von ihnen war jüdisch. Zahlreiche Kinder gehören dazu.

Ihre gesundheitlichen Probleme, die Resi Samsons grausames Schicksal frühzeitig besiegeln, treten drei Jahre vor ihrer Ermordung massiv zu Tage. 1937 begibt sich die 31-jährige, alleinstehende Frau in ärztliche Behandlung. Sie ist von einer zeitweiligen Arbeitsstelle aus Holland nach Aurich zurückgekehrt. Resi Samson, die die Volksschule absolvierte hatte und danach im mütterlichen Haushalt half, arbeitet schon lange auch zeitweise auswärts als Haushalts- und Küchenhilfe vor allem in Hotels und Pensionen, so in Magdeburg, Limburg und Hamburg. Sehr oft ist sie auch in der Saison auf Norderney unter anderem im Kindererholungsheim der Zions-Loge Hannover, wo auch ihre zwei Jahre jüngere Schwester Betti arbeitet. Auch der Vater Jakob Hartog Samson, der 1934 mit 72 Jahren verstirbt, ist oft auf Norderney. Der Schlachter verkauft dort in einer Filiale in den Sommerferien koscheres Fleisch. Die Insel gilt als beliebtes Ferienziel für Juden.

Ihre letzte Anstellung hat Resi Samson 1936/37 im holländischen Farsum bei Delfzijl, von wo sie „mit Heimweh“ und vor allem auch schwanger im Januar 1937 nach Aurich zurück kommt. Ob die Schwangerschaft auch zu ihrem labilen Zustand beigetragen hat, ist unklar. Psychische Probleme scheint sie auch schon in der Kindheit gehabt zu haben, wie in ihrer Krankenakte zu lesen ist. „Ich war immer so ein komischer Mensch“, sagt sie einem Arzt. Sie sei schon als Kind schwermütig gewesen und mit sich selbst unzufrieden.

Resi Samson wird nach der Rückkehr Anfang 1937 aus Holland laut ärztlichen Unterlagen von der Mutter gedrängt, sich eine neue Anstellung zu suchen. Sie geht nach Hannover. Dort werden ihre gesundheitlichen Probleme aber derart stark, dass sie im März 1937 in die private Heil- und Pflegeanstalt in Ilten bei Hannover eingewiesen werden muss. Wenig später erstellt der Direktor der Heilanstalt Langenhagen am 5. April 1937 ein ärztliches Gutachten, darin heißt es: „Patientin wurde am 20. März ds. Jahres hier aufgenommen mit einem ärztlichen Attest des Dr. Löwenstein, weil sie an einer reaktiven Gemütsdepression und Hemmungszuständen mit Selbstmordgedanken leidet. … Sie soll im vierten Monat schwanger sein. … Sehr häufig versuchte sie sich mit Nachtjackenärmel zu erdrosseln.“ Zum körperlichen Befund heißt es in einem leicht antisemitischen Duktus: „Körperlich ist sie eine dunkelhaarige Jüdin in gutem Ernährungszustand und starker Körperbehaarung.“ Zur Diagnose: „Fräulein Resi Samson leidet an einem reaktiv ausgelösten endogenen Verstörungszustand wahrscheinlich im Verlaufe eines manisch-depressiven Zustands. Die Heilungsaussichten sind günstig.“ Für die Pflege empfehle sich die Heilanstalt in Osnabrück, schreibt der Mediziner.

Die nächsten mehr als drei Jahre verbringt Resi Samson – mit einer kurzen viermonatigen Unterbrechung in der Landes Heil- und Pflegeanstalt in Osnabrück. Was aus ihrer Schwangerschaft wurde, ist völlig unklar. In den noch vorhandenen Dokumenten ist von einer Schwangerschaft und einer Geburt keine Rede. Bei einem normalen Schwangerschaftsverlauf hätte das Kind im September 1937 zur Welt kommen müssen. Sie befand sich zum Zeitpunkt des plausiblen Schwangerschaftsendes in der Osnabrücker Heilanstalt.

Möglicherweise ist sogar das ungeborene Kind Opfer des NS-Wahns geworden. Bereits am 14. Juli 1933, also nur wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, erließen diese das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Danach konnte eine Sterilisation und ab 1935 auch ein Schwangerschaftsabbruch unter anderem von einem Leiter einer Heil- und Pflegeanstalt beantragt werden, wenn die betreffende Person dort einsaß. Als erbkrank im Sinne des Gesetzes galt unter anderem jemand mit „manisch-depressivem Irresein“ oder „Schitzophrenie“. Eine Entscheidung über den Eingriff musste vom sogenannten Erbgesundheitsgericht gefällt werden, was jeweils beim Amtsgericht angesiedelt war. Von der Definition des Gesetzes her galt ein Eingriff in der Schwangerschaft bis zum sechsten Monat als zulässig. Ob man Resi Samson auf diese Weise ihr Baby abgenommen hat, ist nicht belegt.

Der psychische Krankheitsverlauf scheint bei der Auricherin schwerwiegender gewesen zu sein, als ursprünglich angenommen. Nachdem Resi Samson am 23. April 1937 in Osnabrück mit der Aktennummer 54542 aufgenommen wird, muss sie mehr als ein Jahr dort verbringen, ehe sie am 21. August 1938 entlassen wird. Allerdings wird sie bereits vier Monate später erneut aufgenommen, was dann letztendlich auch ihren Tod bedeutet. Wiederum ist es die Mutter, die scheinbar mit ihrer psychisch kranken Tochter überfordert ist und diese zum Arzt schickt. Dr. Müller in Aurich vermerkt am 17. Dezember 1938: „Frl. Samson ist seit mehreren Wochen geistesgestört, sie ist sehr bösartig und wird handgreiflich. Anstaltsaufnahme ist notwendig.“ Zwei Tage später schreibt der Arzt: „Sie stellt zweifellos für sich selbst, ihre Familienangehörigen und auch für arische Nachbarn eine Gefahr dar und die Unterbringung der R. Samson in einer geschlossenen Anstalt ist somit dringend erforderlich.“
Während sich Resi Samson in Osnabrück in der Heilanstalt befindet, bringt das nationalsozialistische Regime die systematische Ermordung von behinderten und kranken Menschen auf den Weg. Im Oktober 1939 gibt es den Führerbefehl, „unheilbar Kranken“ den „Gnadentod“ zu geben. Mit der Umsetzung wird Adolf Hitlers Begleitarzt Dr. Karl Brandt (1904-1948) und der Chef der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler (1899-1945), beauftragt. Der Befehl wird auf den 1. September – den Tag des Kriesgsbeginns – zurückdatiert. Die Ermordung wird damit in einen kausalen Zusammenhang mit kriegsnotwendigen Maßnahmen gestellt.

In den Jahren 1940/41 fallen der sogenannten T4-Aktion 70.243 Männer, Frauen und Kinder zum Opfer, die zuvor medizinisch als unheilbar psychisch krank eingestuft worden waren. T4 ist dabei kein zeitgenössischer Begriff, sondern wird erst nach dem Krieg so benannt und bezieht sich auf die Adresse der zentralen Dienststelle für die Ermordung: eine Villa in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte. In zahlreichen Dokumenten wird dagegen von „Aktion“ oder auch „E-Aktion“ oder „EU“-Aktion gesprochen. „E“ und „EU“ stehen dabei für „Euthanasie“, ein griechischer Begriff, der in beschönigender Weise so viel bedeutet wie „schöner Tod“. Die massenhafte Ermordung verläuft unter größter Geheimhaltung und die Abläufe werden in offiziellen Schreiben „verschleiert“, in dem Zielorte für Transporte oder Todesursachen nicht benannt oder bewusst falsch angegeben werden. Trotzdem sickert einiges durch, so bezeichnete der Münsteraner Bischof Clemens August von Gahlen (1878-1946) die Krankentötungen in einer Predigt am 3. August 1941 als Mord. Noch im selben Monat wird die T4-Aktion auf Anweisung Hitlers eingestellt, sie läuft gleichwohl als „wilde Eutha­nasie“ weiter.

Die Tötungsanstalt in Brandenburg/Havel, wo Resi Samson umgebracht wird, gehört zu den ersten der sechs zentralen Mordeinrichtungen im Reich. Sie ist zwar auf Briefbögen und im Schriftverkehr als „Landespflegeanstalt“ deklariert, dient aber ausschließlich der Ermordung von kranken Menschen. Von Februar bis Oktober 1940 werden dort 9972 Menschen umgebracht, in dem sie in einer Scheune vergast werden.
Leiter der Anstalt, die in einem ehemaligen Zuchthaus untergebracht wird, ist Irmfried Eberl (1910-1948). Dieser wird im Sommer 1942 erster Leiter des Vernichtungslager Treblinka, wo die systematische Ermordung von Juden und Roma im besetzten Polen und der Ukraine organisiert wird. Im Werdegang von Eberl wird deutlich, dass die Tötungen von Kranken ab 1940 auf deutschem Boden zur Vorlage für die Massenvernichtung im Osten wurden. Die Mordverfahren mit Vergasungen in als Duschen getarnten Räumen werden in den Vernichtungslagern übernommen.

Mehr als 90 Mitarbeiter der T4-Aktion sind später bei der „Aktion Reinhardt“ dabei, mit der die Massenvernichtung umgesetzt wird.

Die 34-Jährige Resi Samson aus Aurich gelangt am 27. September 1940 nach Brandenburg/Havel. Mit 152 weiteren jüdischen Patienten wird sie von der Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf aus dorthin gebracht. Üblicherweise werden die Menschen dort noch am Tag der Ankunft umgebracht. Sie werden zunächst in Zellen gebracht und dann jeweils zu 20 Personen geholt. Sie müssen sich ausziehen und werden oberflächlich von einem Arzt begutachtet, um sie nicht zu beunruhigen. Sie bekommen Nummernstempel aufgedrückt. Sie müssen auf Holzpritschen Platz nehmen, dann wird die Tür verschlossen und Gas eingeführt. Nach 15-20 Minuten wird das Gas wieder rausgelassen, durch einen Spion kann beobachtet werden, dass wirklich alle tot sind. Bei den Patienten, bei denen Goldzähne festgestellt worden waren, werden diese nun gezogen. Anschließend werden alle Leichen verbrannt.

Die für die Tötung vorgesehenen Patienten werden in den allermeisten Fällen nicht direkt von ihrer Heil- und Pflegeanstalt aus dem gesamten Reich abgeholt, in der sie behandelt wurden, sondern über eine Zwischenanstalt. Dies dient der Verschleierung der Aktion. Im niedersächsischen Raum ist diese Zwischenanstalt in Wunstorf, wohin Resi Samson am 21. September 1940 von Osnabrück aus gebracht wird und wo sie sich sechs Tage aufhält. Die Beförderung erfolgt über die eigens für die Tötungsaktion gegründete Gemeinnützige Kranken-Transport GmbH.
In vielen Fällen erhalten die Angehörigen erst einige Wochen nach dem Tod der Patienten eine Mitteilung auf Briefpapier der „Landes-­Pflegeanstalt Brandenburg a.H.“. Es werden stets Ablebegründe angeführt, die mit dem vorherigen Krankheitsbild korrespondierten. Das Todesdatum wird jeweils vordatiert, um noch länger Pflegegeld zur Finanzierung der heimlichen Aktion zu kassieren.

Ganz offensichtlich erhalten die Angehörigen von Resi Samson gar keine Mitteilung. Jedenfalls meldet sich die Schwester Betti, die sich in Hannover aufhält, bei der Pflegeanstalt in Osnabrück und erkundigt sich nach dem Verbleib von Resi. „Ist sie noch dort und wie geht es ihr“, fragt sie. „Es gehen so allerhand Gerüchte um.“ Mit Datum vom 10. Oktober 1940 wird ihr wahrheitsgemäß die Verlegung der Schwester am 21. September nach Wunstorf mitgeteilt. „Vielleicht fragen Sie dort mal nach“. Und: „Die Krankheit Ihrer Schwester ist in ein schwieriges Stadium geraten.“

Die 59-jährige Mutter Jenny Samson lebt 1941 in Hamburg in einem Sammelhaus für Juden, sie schreibt am 1. April ebenfalls nach Osnabrück. Auch sie scheint lediglich die Information von der Verlegung der Tochter bekommen zu haben, wenn man die Bleistiftanmerkungen zu ihrem Brief richtig deutet.

Jenny Samson wird ein Jahr später am 31. März 1942 – genauso wie ihre Tochter Betti – von Gelsenkirchen aus ins Warschauer Ghetto deportiert, danach verliert sich ihre Spur. Vom Schicksal Resis werden sie nichts mehr erfahren haben.

Lediglich der 25-jährige Hugo Samson, der Bruder von Resi und Betti, schafft es im Laufe des Jahres 1939 nach Palästina zu gelangen und dem Mord an den Juden zu entkommen. Er kämpft in der britischen Armee und kehrt später nach Deutschland zurück, wo er mit Familie in Berlin lebt. Er recherchiert nach dem Krieg den Verbleib seiner Mutter und den der Schwestern. Zu Resi Samson teilt ihm die Auricher Staatsanwaltschaft mit, dass diese „am 3.2.41 in Chelm gestorben und im Sterbebuch 399/1941 eingetragen“ wurde. Die „Irrenanstalt Chelm“ in Ostpolen wurde als fiktive Adresse für den Schriftverkehr mit Angehörigen und Behörden gewählt, eigentlich befand sich in der Nazizeit das Sonderstandesamt in Berlin.
Am 11. Juli 1952 bekommt Hugo Samson vom Landeskrankenhaus Wunstorf die Antwort, dass seine Schwester Resi Samson am 27. September 1940 „in eine jüdische Sammelanstalt“ im damaligen Generalgouvernement In Ostpolen verlegt worden sei. Der größte Teil der Kranken sei in die Heil- und Pflegeanstalt Chelm bei Lubin gebracht worden, heißt es. Entweder ­wollen die Behörden und Krankenhäuser auch nach dem Krieg die Tötungsaktion verschleiern oder sie haben tatsächlich keine anderen Informationen. Viele Details werden erst Jahrzehnte später publik.
Hugo Samson ist über den Verlust der Familie nicht hinweggekommen, er spricht nicht viel über vergangene Tage. Was aus den Schwestern und der Mutter wurde, konnte er nicht mehr in Erfahrung bringen. Er stirbt 1977 mit 63 Jahren. Am 12. Februar 2013 wurde für Resi Samson ein Stolperstein verlegt.

Quellen:
  • Staatsarchiv Aurich, Meldekarte Resi Samson, Dep. 34c, Nr. 1203/1
  • Staatsarchiv Osnabrück, Krankenakte Resi Samson, Rep. 727 Akz. 13/85, Nr. 3941
  • Astrid Ley/Annette Hinz-Wessels (Hrsg.), Die Euthanasie-Anstalt Brandenburg an der Havel, Morde an Kranken und Behinderten im Nationalsozialismus, Berlin 2017 (2. Aufl.)
  • Holger Frerichs, Spurensuche: Das jüdische Altenheim in Varel 1937-1942, Jever 2012
  • Raimund Reiter, Opfer der NS-Psychiatrie aus Osnabrück, in: Osnabrücker Mitteilungen, Band 115, Osnabrück 2010
  • Gedenkbuch des Bundesarchivs, bundesarchiv.de
Recherche:

Jörg Peter