Project Description

Minka Cohen
* 8. September 1923 in Aurich
† 1. Februar 1997 in Ra‘anana/Israel

Wallstraße 33, Aurich

In die Welt der Erwachsenen gestoßen

Minka „Mia“ Cohen verlässt mit 14 Jahren das Elternhaus und überlebt in Israel

Minka Cohen hat keine Zeit, um erwachsen zu werden. Dabei hatte das Mädchen in Aurich eine schöne Kindheit, wie Augenzeugen berichten. Das Haus der Cohens in der Wallstraße – der sogenannten Jödenstraat – ist stets offen für Gäste und spielende Kinder, wenngleich die Eltern zur armen Schicht Aurichs gehören. Nicht nur jüdische Kinder gehen bei den Cohens ein und aus, auch „arische“. Viele Onkel und Tanten leben in der Umgebung, und so hat Minka Cohen neben ihren drei Geschwistern viele Spielkameraden.

Die Mutter Hannchen Cohen (geb. Wolff, 1892–1942) ist eine herzensgute Frau und führt den Haushalt. Der Vater Jakob Moses Cohen (1882–1942) ist als Viehhändler häufig unterwegs. Beide bekommen sechs Kinder, wobei zwei unmittelbar nach der Geburt sterben. Minka, die meistens nur Mia genannt wird, ist das älteste Kind. Sie wächst mit dem zwei Jahre jüngeren Bruder David Jakob Cohen (1925–2009), der Schwester Martha (1927–1941) und dem Bruder Manfred (1930–1941) auf.

Dann bricht das Jahr 1938 an und die Drangsalierungen durch die Nazis und die fortschreitende Entrechtung der Juden hinterlässt auch in der Familie Cohen ihre Spuren. Minka Cohens Kindheit endet schlagartig, der 14-Jährigen stehen harte Ereignisse bevor. Als sie sich am 11. August 1938 aus Aurich nach Bad Soden im Taunus abmeldet, ist vieles noch halbwegs normal. Das Mädchen nimmt in der Israelitischen Kuranstalt eine Arbeit auf und startet damit schon früh ins Berufsleben. Sie muss – wie für viele andere Jugendliche damals üblich – für den Lebensunterhalt der Familie mit sorgen. Zuvor hatte sie die jüdische Volksschule in Aurich in der Kirchstraße besucht. Zum Gymnasium wäre Minka Cohen als Jüdin nicht zugelassen worden.

Allerdings berichtet ihr jüngerer Bruder David Cohen 1988 darüber, dass es in jenem Jahr 1938 schon „allen ziemlich dreckig ging“. Die Familie ist bereits lange sehr arm. Noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ist in einer Auflistung der Fleischer-Zwangsinnung von 1932 zu lesen, dass der Fleischer Jakob Cohen „wegen Notlage“ von der Beitragszahlung per Beschluss befreit worden sei. Spätere Verordnungen, die darauf zielten, die jüdischen Viehhändler und Fleischer aus dem Geschäftsleben zu verdrängen, müssen die Situation bei den Cohens noch verschärft haben. 1938 habe seine Bar Mizwa – die jüdische Feier zur religiösen Mündigkeit der Jungen – stattgefunden, sagt David Cohen. „Das war das letzte Mal, wo meine ganze Familie zusammen war.“

Das Intermezzo von Minka Cohen in Bad Soden ist nur kurz, da bereits drei Monate nach ihrer Ankunft, im November 1938, der reichsweite Pogrom gegen die Juden wütet und dabei auch die jüdische Kulturanstalt in der hessischen Kleinstadt in Brand gesetzt wird. Minka kommt Hals über Kopf wieder zurück nach Aurich. Der Vater muss bis zum 6. Dezember 1938 – wie viele andere jüdische Männer aus Aurich – im KZ Sachsenhausen bleiben. Nach seiner Rückkehr bemüht er sich um eine Ausreise aus Deutschland. Er fährt mit seinem Bruder Levy Moses Cohen (geb. 1884), der im Ruhrgebiet lebt, nach Köln zum britischen Konsulat und sie bekommen dort ein Touristenvisum angeboten. Der Onkel nimmt dies sofort an, der 56-jährige Jakob Moses Cohen ist zögerlicher und lehnt ab. Für eine Ausreise reicht das Geld nicht mehr.

Im Mai 1939 geht Minka Cohen nach Emden ins jüdische Altersheim in der Claas-Tholen-Straße und arbeitet dort in der Küche. Es sollte nur ein Jahr später der einzige Ort in Ostfriesland sein, an dem noch Juden leben durften, alle anderen wurden spätestens im April 1940 evakuiert. Zu diesem Zeitpunkt hat Minka Cohen ihre Anstellung bereits wieder aufgegeben. Die Eltern sehen noch eine Chance darin, ihre beiden ältesten Kinder über jüdische Auswanderungsorganisationen außer Landes zu schaffen. Minka verlässt am 24. November 1939 endgültig Aurich und wird ihre Eltern und zwei ihrer Geschwister nie mehr wieder sehen. Durch die zionistische Jugendorganisation Hechalutz in Berlin wird sie aufgenommen und auf die Einwanderung nach Palästina (die sogenannte Aliyah) vorbereitet.

Nur den ältesten Bruder David, der ebenfalls nach Palästina flüchten kann, sieht sie später wieder und hält engen Kontakt. Die jüngeren Geschwister kommen 1940 bei der Räumung von Ostfriesland zunächst in ein jüdisches Kinderheim in Köln, später führt ihr Weg – wie der der Eltern – über Bremen und Hamburg ins Ghetto nach Minsk. Sie werden am 8. November 1941 deportiert und später qualvoll ermordet. Es gibt immer wieder Massenerschießungen und ab Sommer 1942 werden gar Lastwagen eingesetzt, in denen die Menschen qualvoll mit Gas umgebracht werden. Minka Cohen erreichte im März 1943 Palästina. Sie war eineinhalb Jahre unterwegs und wäre fast gar nicht angekommen. Ihre Eltern und Geschwister waren in der Zwischenzeit ermordet worden.

Eine Odyssee nimmt ihren Lauf: Der „Kladovo-Transport“

Ende November 1939 besteigt Minka Cohen in Wien ein Schiff, das nach Bratislava aufbricht. Die Fluchtroute ist von zionistischen Organisationen erkauft worden. Man hatte dem damaligen Judenreferenten von Wien, Adolf Eichmann (1906–1962), Geld zugesteckt, was dieser wiederum in seine Privatschatulle befördert hatte.

Zunächst wird die Fahrt von der Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft betrieben, 1.002 Flüchtlinge sind an Bord der „Uranus“. Das Etappenziel ist die rumänische Donaustadt Sulina, direkt am Schwarzen Meer gelegen. Von Wien ist es über die Donau bis zur Schwarzmeer-Mündung eine rund 2.000 Kilometer lange Strecke. Sie verläuft durch mehrere Länder oder grenzt daran. Die unterschiedlichen Länder sind auch das Problem für diesen Transport, weil viele Transitvisa für die Passagiere erforderlich werden. Und auch die Schifffahrtsgesellschaft wendet sich alsbald von dem heiklen Unterfangen ab und lässt die Menschen im Stich.

Die Flüchtlinge stranden am 31. Dezember 1939 in der jugoslawischen Kleinstadt Kladovo. Monatelang müssen sie dort in Ungewissheit aushalten. Transitvisa platzen immer wieder. Wenn einmal welche kurzfristig ausgestellt werden, kommen technische und finanzielle Probleme hinzu, so dass Weiterfahrten mehrfach scheitern. Der mit Stempeln und Marken übersäte Pass von Minka Cohen spricht Bände über diese Odyssee.
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Kladovo-Flüchtlinge Anfang September 1940 einen illegalen Flüchtlingstransport an sich vorbeiziehen sehen. Es ist der letzte, der das Reichsgebiet verlassen kann. Auf einem der Schiffe fahren Wolf Benjamin Wolffs (1904–1986) und dessen Bruder Benno Wolffs (1910–1995) mit, die Minka Cohen aus ihrer Auricher Nachbarschaft kennt. Sie weiß zu dem Zeitpunkt nichts davon, dass ihre Bekannten dort als Passagiere an Bord sind. Eines der vorbeiziehenden Schiffe, die „Uranus“, war genau das Schiff gewesen, mit dem Minka Cohen zehn Monate zuvor ihre Fahrt auf der Donau begonnen hatte.

Statt ihre Fahrt auf der Donau fortsetzen zu können, werden die Flüchtlinge – und damit auch Minka Cohen – am 17. September 1940 von Kladovo aus in einer fünftägigen Tour mit einem alten Kahn westwärts über den Fluss Save in das jugoslawische Šabac gebracht. Für Minka Cohen ist es ein großes Glück, dass die 15 bis 17 Jahre alten Flüchtlinge, die über die Jugend-Aliyah dabei sind, dann tatsächlich noch im Februar 1941 Reisezertifikate bekommen und mit dem Zug über Griechenland und die Türkei nach Syrien und schließlich nach Palästina gelangen können. Die zurückgebliebenen erwachsenen Flüchtlinge werden kurze Zeit später mit dem Überfall der Wehrmacht auf Jugoslawien – ab April 1941 – alle ermordet.

Über die Jugend-Aliyah konnten insgesamt etwa 7.600 Kinder und Jugendliche aus Nazi-­Deutschland vor der Ermordung bewahrt werden, im Fall Kladovo waren es etwa 200. Es wurde streng darauf geachtet, dass Erwachsene nicht berücksichtigt werden. Minka Cohen ist 17,5 Jahre alt, als sie über die Organisation gerettet wird. Übrigens ist die Kinder- und Jugend-Aliyah 1933 von einer gebürtigen Ostfriesin gegründet worden: Recha Freier (1892–1984) war in Norden zur Welt gekommen, heiratete später einen orthodoxen Rabbiner und lebte in Berlin, von wo aus sie bis 1940 teils illegal versuchte, jüdische Kinder und Jugendliche vor den Nazis außer Landes zu bringen. Ob Minka Cohen ihr im November 1939 bei ihrem kurzen Aufenthalt in Berlin begegnet ist, ist nicht belegt.

Ein neues Leben in Palästina

Am 30. März 1941 betritt Minka Cohen in Rosh Hanikra palästinensischen Boden. Es ist heute der nordwestlichste Zipfel Israels. Die Fahrt geht bis in das Lager Atlit, südlich von Haifa. Dort lernt sie ihren späteren Mann Jupp Vos (1918–1983) kennen, der wie sie selbst aus einer Viehhändler- und Metzgerfamilie in Neuenahr stammt. Bereits am 4. Februar 1943 heiraten sie in Jerusalem, Minka Cohen ist gerade erst 19 Jahre alt. Sie wohnen in Ra‘anana, einem Vorort von Tel Aviv. 1946 wird Tochter Chana und 1950 Sohn Eliezer geboren.

Ähnlich wie ihre Mutter pflegt Minka Cohen, die jetzt mit Nachnamen Vos heißt, ein offenes Haus für Gäste. „Es war immer Remmidemmi, die Tür stand stets offen“, sagen Zeitzeugen. Ihr Onkel Levy Moses – genannt Hermann – wohnt mit seinen Kindern und Enkeln in der Nähe. Auch zu ihrem Bruder David Cohen hat sie engen Kontakt. Sie führt den Haushalt und arbeitet zeitweilig in einem kleinen Laden. Außerdem engagiert sie sich für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen.

Minkas Mann Jupp arbeitet zunächst in zwei Kibbuzim in der Landwirtschaft, später macht er sich selbstständig, baut Stallanlagen und führt ein Fahrradgeschäft. Zuletzt ist er Zivilangestellter einer staatlichen Rüstungsfirma, der Israel Military Industries (IMI). Durch diese Arbeit kommt er auch noch einige Male nach Deutschland.

Ende der 1970er Jahre, Minka Cohen ist gerade erst 55 Jahre alt, erleidet sie einen Pneumothorax aus einer unentdeckten Vorerkrankung. Die Atmung stockt, sie droht zu ersticken. Erst im Krankenhaus setzt die Atmung wieder ein. Das Gehirn wurde jedoch durch Sauerstoffnot geschädigt und sie bleibt teilweise gelähmt. Die plötzliche Krankheit trifft die Familie hart. Minka Cohen ist an den Rollstuhl gefesselt und muss gepflegt werden. Die Angehörigen sagen, dass sie ihre Krankheit tapfer ertragen habe. Sie ist körperlich behindert, aber geistig wach, nimmt an allem teil, was um sie herum geschieht, und ist dabei stets zu Scherzen aufgelegt. Minka Vos stirbt am 1. Februar 1997 mit 73 Jahren in einem Heim. Ihr Mann Jupp war schon 14 Jahre zuvor im Alter von 65 Jahren am 26. Juli 1983 bei einem Tennisspiel plötzlich tot zusammengebrochen.
Für Minka Vos, geborene Cohen, und ihre Familie sind am 21. Oktober 2016 vor dem Haus in der Wallstraße 33 in Anwesenheit von Familienangehörigen aus Israel insgesamt sechs Stolpersteine verlegt worden.

Quellen:
  • Niedersächsisches Landesarchiv, Standort Aurich, Rep. 16/1 Nr. 5748, Kennkarte Minka Cohnen
  • Interview von Jörg Peter mit Minka Cohens Nichte Lea Oelsner, Berlin 12. Februar 2017
  • Verzeichnis der 1933 in Aurich wohnhaft gewesenen Juden, Nachkriegsaufstellung, ITS Bad Arolsen, 1.2.5.1./12849257
  • Wolfgang Freitag, Auf den Spuren der jüdischen Geschichte, Aussagen David Cohen, S. 48–51, Aurich 2001
  • Gabriele Anderl, Walter Manoschek, Gescheiterte Flucht: Der jüdische „Kladovo-Transport“ auf dem Weg nach Palästina, Wien 1993
  • Dalia Opfer, Hannah Weiner, Dead-End-Journey – The Tragic Story of the Kladovo-Sabac-Group, University Press of America, Lanham 1996
Recherche:

Jörg Peter