Project Description

Sonja Samson (rechts) im Sommer 1935
* 30.1.1931 in Aurich
† 16.8.1986 in New Jersey (USA)

Am Neuen Hafen 2, Aurich

Eine abrupte Trennung von den Eltern

Sie muss als kleines Mädchen die Deportation der Eltern erleben

Am 13. September 1942 ist Sonja Samson elf Jahre alt, als das kleine Mädchen aus Aurich im südfranzösischen Rivesaltes den schicksalhaftesten Tag ihres Lebens erlebt. Es ist der Tag, an dem sie ihre Eltern das letzte Mal sieht und an dem sie nur durch sehr viel Glück dem sicheren Tod in Auschwitz entkommt. Es ist auch der Tag, der ihr im späteren Leben viele Gewissensbisse bereiten wird, da sie aus der näheren Familie eine von ganz wenigen ist, die den Holocaust überlebt. Später wird Sonja Samson sagen, es sei der Tag gewesen, an dem ihr Herz gebrochen wurde. Sie habe danach nichts mehr vom Leben und von anderen Menschen erwartet.

Mit ihren Eltern sei sie am 26. August 1942 in das Lager von Rivesaltes gebracht worden, sagt Sonja Samson. An das Datum kann sie sich so genau erinnern, weil es der Geburtstag der Mutter war. Seit 1940 lebten Sonja und ihre Mutter bereits im französischen Gurs, wohin der Vater an jenem Tag aus einem Nachbardorf kommen wollte. Die Ehe der Eltern sei nicht besonders glücklich gewesen, daher lebten sie getrennt voneinander, hatten aber Kontakt. „In Friedenszeiten wären sie geschieden worden“, sagt die Tochter. Im Krieg habe es das aber eben nicht gegeben. Als sie und ihre Mutter an diesem Augusttag abgeholt werden, sitzt der Vater bereits auf dem Lastwagen in Richtung des Lagers von Rivesaltes. Er ist, als er sich auf dem Weg zur familieninternen Geburtstagsfeier befand, von der französischen Polizei aufgegriffen worden.

Das Camp de Rivesaltes wird in diesen Augusttagen zum Hauptsammellager für die in Frankreich gefangen genommenen Juden in der „freien Zone“ unter dem Vichy-Regime und den deutschen Besatzern. Das Lager befindet sich etwa 45 Kilometer nördlich der spanischen Grenze nahe der Stadt Perpignan im französischen Departement Pyrénées-Orientales. Bis November 1942 wurden etwa 2.300 Juden aus Rivesaltes über das Sammellager Drancy bei Paris ins NS-Vernichtungslager Auschwitz deportiert.

Rund zwei Wochen nach ihrer Einlieferung in das Lager von Rivesaltes steht Sonja Samson an jenem schicksalhaften 13. September 1942 mit ihrer Mutter Carla Samson, die damals 36 Jahre alt ist, in einer Schlange zur Registrierung. Die französische Polizei stellt Listen zusammen und hilft dabei, die Juden der Region in Züge zu pferchen, die dann in den Osten Europas fahren. Die Menschen müssen sich in alphabetischer Reihenfolge anstellen. Die Mutter versucht, ihre Tochter bei einer auf dem Lagergelände arbeitenden Hilfsorganisation für jüdische Kinder, der Œuvre de Secours aux Enfants (OSE), abzugeben, um Sonja vor der Erfassung zu schützen, die nichts Gutes verheißen würde. Die OSE bewahrte in den Kriegsjahren am Ende tatsächlich insgesamt rund 5.000 jüdische Kinder vor dem Tod. Die Herbergsdame lehnt es jedoch zunächst ab, die kleine Sonja aufzunehmen. Das Haus sei schon komplett voll mit Kindern, deren Eltern bereits auf Transporte gegangen sind, sagt sie der Mutter.
Dann – nur noch eine Person vor dem Buchstaben „S“ – erscheint die Herbergsmutter plötzlich und ruft: „Wir nehmen sie doch!“ Sonja wird im letzten Moment aus der Reihe herausgezogen und in das Haus der Kinder gebracht. Das kleine Mädchen kann den Moment gar nicht begreifen, wie sie in einem Interview 43 Jahre später erzählt.

Die elfjährige Sonja möchte wieder zurück zu ihren Eltern. Zu ihrem Schreck muss sie erleben, dass keiner der ihr vertrauten Menschen mehr da ist. Tagelang läuft sie im Lager verzweifelt umher und erkundigt sich, ob jemand ihre Mutter gesehen hätte. Sie trüge ein Kleid, genauso eins, wie sie es anhabe: Es ist in tiefem Purpur mit kleinen Karos und gelben dünnen Linien. Vergebens.

Die Eltern von Sonja, Carla und Josef Ruben Samson, werden mit dem 33. Transport von Frankreich in Richtung Auschwitz gebracht. Der Zug verlässt das Lager Drancy bei Paris am 16. September 1942 mit 1.003 Menschen. Auf der Deportationsliste sind die Samsons mit Nr. 453 und 454 verzeichnet. Es gibt Indizien dafür, dass Carla Samson gleich bei der Ankunft am 18. September in Auschwitz zu den 556 Menschen gehört, die sofort ins Gas geschickt werden. Der Zug hatte rund 80 Kilometer vor Ausch­witz im Ort Cosel (Koźle) Halt gemacht, wo 300 Männer für die Arbeit in umliegenden Lagern unter anderem für die I.G. Farben ausgesucht wurden. Vermutlich ist auch Josef Samson dabei gewesen. Jedenfalls scheint er nicht gleich umgebracht worden zu sein, da die Tochter Sonja nach dem Krieg bei der offiziellen Todeserklärung ihres Vaters durch die Stadt Saarlouis am 12. April 1951 die Auskunft bekommt, dass dieser mit Datum 31.1.1944 in Auschwitz als „verschollen“ gelte. Weitere Hinweise auf den Verbleib der Eltern gibt es nicht.

Vor der Deportation

Rückblende: Sonja Samson wird am 30. Januar 1931 in Aurich geboren, sie hat keine Geschwister. Ihr Vater Josef Ruben Samson entstammt einer Viehhändlerfamilie. Schon dessen Vater übte den Beruf aus, ebenso wie seine drei Brüder. Im ländlich geprägten Aurich ist dies nicht ungewöhnlich, viele Familien der jüdischen Gemeinde haben mit Viehhandel zu tun oder sind Schlachter. Sonjas Mutter, Carla Samson (geb. Hoffmann), stammt dagegen aus einem ganz anderen Umfeld. Sie wurde in Dillingen im Saarland geboren und besuchte ein französisches Internat, ehe sie mit 21 Jahren am 13. April 1928 Josef Samson heiratet. Zwei Monate nach der Hochzeit ziehen sie in das Haus in Aurich Am Neuen Hafen 2. Das Gebäude wird später eine Sammelstation für viele jüdische Einwohner Aurichs, ein sogenanntes „Judenhaus“. Das Finanzamt konfisziert es im Jahr 1943. Sonja wird von einem Kindermädchen großgezogen, da die Mutter offensichtlich unglücklich in Ostfriesland ist und oft mit der Bahn in die Heimat fährt. Sonja ist gerne bei Onkeln und Tanten in der Auricher Innenstadt.

Die Eltern erkennen offensichtlich früh die Gefahren der Zeit, denn sie bringen ihre einzige Tochter Sonja bereits 1936 im Alter von fünf Jahren zu den Großeltern mütterlicherseits, Adolf und Hilde Hoffmann, ins luxemburgische Ettelbrück. Der Großvater, der selbst aus Aurich stammte, schult das Mädchen in einer katholischen Mädchenschule ein. Erst im Mai 1937 ziehen die Eltern nach Frankreich in das im Departement Ardennes gelegene Rocquigny. Der Vater meldet sich zur französischen Armee, wird jedoch mit Kriegsausbruch am 5. September 1939 in Gurs interniert, nachdem die Deutschen Polen überfallen hatten.

Sonja Samson erlebt nach der Deportation der Eltern ab September 1942 eine zweieinhalbjährige Odyssee, die markiert ist von Unterbringungen, Verstecken und Verstellungen. Sie verbringt eine Zeit in einem Kloster in Palavas-les-Flots. Die Erfahrung aus der Luxemburger Schulzeit ermöglicht ihr dort ein unauffälliges „Katholischsein“. Sie ist zusammen mit anderen jüdischen Kindern versteckt in einem Waisenhaus untergebracht, welches unter der Aufsicht der Union générale des Israélites de France (UGIF) und der OSE steht. Sonja lebt in ständiger Angst davor, entdeckt zu werden. In ihrem letzten Quartier vor Kriegsende hoch in den Bergen in Haute-Savoie wohnt sie bei einer älteren Frau. Deren Haus war eine Art Relais-Station des Widerstands. Einmal, auf dem Fahrrad, wird Sonja auf der Straße von deutschen Soldaten gestoppt. In großer Angst muss sie sich gegenüber den Soldaten ahnungslos geben, obwohl sie natürlich jedes ihrer deutschen Worte versteht und die unmittelbare Bedrohung mitbekommt. Nichts in ihrer Miene darf ihre Angst zeigen. Diese Momente der völligen Verstellung und der Anpassung um des Überlebens willen prägen sie für ihr weiteres Leben. Nur mit diesem Wissen kann man den Lebensweg der späteren amerikanischen Psychologin Dr. Sonja Samson richtig einordnen. Ihre zerrissene Persönlichkeit hat sie selbst so ausgedrückt: „Auf Deutsch sage ich die Wahrheit, im Französischen lüge ich grundsätzlich und im Englischen intellektualisiere ich.“

Der Krieg nach dem Krieg

Nach dem Krieg und nach einer fast zweijährigen Zeit des Versteckens schließt Sonja Samson sich in Paris der Haschomer Hatzair, einer Art Pfadfinderbewegung mit dem Ziel der Einwanderung nach Palästina, an. Die 16-Jährige entscheidet sich aber am Ende gegen die Alija – die Rückkehr in das historische Heimatland der Juden – und wandert 1947 von Schweden aus mit der „Gripsholm“ nach Amerika aus. Das Ziel des riesigen Passagierschiffes: New York. Als sie ablegen, erleidet Sonja einen Zusammenbruch. Der Anblick, wie das Schiff sich immer weiter vom Ufer entfernt, macht ihr den Verlust deutlich, den sie in den Kriegsjahren erlitten hat. Sie habe die leise Hoffnung gehabt, dass zumindest ihr Vater noch leben könnte. Von ihrer Mutter, die zum Zeitpunkt der Deportation schwer krank gewesen war und eigentlich hätte operiert werden müssen, glaubte sie dies schon länger nicht mehr. Als die „Gripsholm“ den schwedischen Hafen verlässt, sei auch die eigene Hoffnung abgefahren, sagt sie später.

Sonja Samson ist in der neuen Heimat sehr auf sich allein gestellt. Sie hat zwar Verwandte in Chicago, Baton Rouge und Milwaukee, fühlt sich aber oft missverstanden. Nach einer ersten Anlaufstation in Chicago kommt sie zur Familie von Harri Hoffmann, einem Neffen ihres Vaters. Deren junge Tochter Lorraine, die in den USA geboren wurde, ist zunächst glücklich, eine „große Schwester“ zu bekommen. Aber Sonja ist in ganz anderer Stimmung. Sie ist verbittert, dass ihre Eltern sterben mussten, während Lorraines Eltern und alle anderen überlebten. Sonja verschließt sich vor den täglichen Familienzusammenkünften, erscheint nicht zum gemeinsamen Mahl. Sie fühlt sich in dieser Enge nicht wohl, ist schroff gegen alles Religiöse und darüber hinaus gegen alles „Kapitalistische“. Die Hoffmanns leben dagegen nach den jüdischen Gesetzen. In der Familie wird nur Plattdeutsch gesprochen und man versuchte ihr den französischen Akzent beim Englischen auszutreiben. „Für mich war es ein Krieg nach dem Krieg, auf den ich nicht vorbereitet war“, sagt Sonja Samson. Die familiäre Enge mit Menschen, die ihr Schicksal nur wenig nachempfinden konnten, verstört sie. „Wenn irgendetwas meinen Humor, meinen Optimismus und meinen Schwung zerstörte, dann war es Milwaukee“, erzählt sie. Ihr Ehrgeiz, etwas zu lernen, bleibt ihr. Sonja Samsons Entscheidung, nicht nach Israel in einen Kibbuz, sondern in die USA zu gehen, habe auch damit zu tun gehabt, dass sie intellektuell etwas voranbringen wollte, statt mit ihrer Hände Arbeit das Überleben zu sichern.

Bei ihrem individuellen Drang, sich durchzusetzen, spielt sicherlich das Vorbild der Mutter eine entscheidende Rolle. Diese sei eine außergewöhnliche Frau gewesen, sagt Sonja Samson. Carla Samson ist in Lausanne zur Schule gegangen und hat fließend Französisch gesprochen. In die ostfriesische Familie mit all den Viehhändlern und Schlachtern habe sie wohl nicht reingepasst. Gleichwohl sei ihr Vater ein charmanter Mann gewesen. Den Ehrgeiz hat die Tochter aber wohl von der Mutter mitbekommen.

Die Familie Hoffmann kann Sonja Samson nur wenig unterstützen. Neben der Schule arbeitet sie. Dennoch schafft sie den Schulabschluss in wenigen Jahren, obwohl sie anfangs nur Französisch und Deutsch kann. Sie bekommt ein Stipendium und studiert an der Roosevelt University in Chicago Psychologie mit dem Abschluss BA und PhD, was dem deutschen Doktortitel entspricht. Sonja Samson arbeitet fortan als klinische Psychologin, für verschiedene Sozialbehörden und zuletzt in einem Gefängnis.

Im Studium lernt Sonja den Studenten Syrus Saxonberg kennen, ebenfalls ein angehender Psychologe. Sie heiraten und bekommen zwei Kinder, Sohn Steven *1961 und Tochter Diane *1964. Die Familie wohnt in Evanston bei Chicago. Sonja lässt sich 1972 scheiden und zieht nach New Jersey. Ihre zwei Kinder überlässt sie alsbald einer Kinderfrau, denn sie ist stets auswärts mit Barbara Lerner, ihrer späteren Lebensgefährtin. Die Kinder erleben ihre Mutter nur an Montagen in nachholenden und eher verstörenden Mutter-Ersatzhandlungen. Nach der Scheidung kommt der Sohn zum Vater, die Tochter zu ihr. Bemerkenswert ist, dass ihr Sohn bei der Trennung gerade mal elf Jahre alt ist und damit genauso alt wie Sonja Samson, als diese ihre Eltern das letzte Mal im Lager von Rivesaltes sieht.

Sonja Samson glüht für die Ideen des Kommunismus, engagiert sich für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, wählt aber später Ronald Reagan. Ihre Lebensgefährtin Barbara Lerner wurde in dieser Zeit Abteilungsleiterin im Ministerium für Erziehung. Mitte der 1980er Jahre erkrankt Sonja Samson an Lungenkrebs. Sie bekommt noch eine anstrengende Therapie, stirbt aber am 11. August 1986 im Alter von nur 55 Jahren.

Ihren letzten Brief an ihren Sohn vor ihrem Tod schickt sie nicht selbst ab, sondern lässt es ihre Tochter Diane tun, denn Steven hält sich zu diesem Zeitpunkt in Deutschland auf – und in dieses Land sollte weder ein Brief von ihr gehen noch eine von ihr gekaufte Briefmarke.
Nur einmal noch, im Jahr 1952, kam Sonja Samson zurück nach Aurich. Es ging dabei um Rückübertragungsklagen. Sie war erbberechtigt für staatlich geraubte Liegenschaften. Es gibt einen Vergleich. Für den Erlös kauft sie sich einen VW und lässt diesen in die USA verschiffen.

Quellen:
  • Nieders. Landesarchiv, Standort Aurich, Rep. 251 Nr. 15, 815, 1158
  • Interview mit Sonja Samson, 3. Juni und 4. August 1985, Nora Lewin Gratz College, Hebrew Education Society
  • Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945, 1989, S. 304
  • Deportationsliste des B.D.S. – Frankreich, vom Lager Drancy zum KZ Auschwitz, 1.1.9.1 / 11181522, ITS Digital Archives, Bad Arolsen
  • Deportationsliste vom Lager Riversaltes zum Lager Drancy, 1.1.9.13 / 11187279, ITS Digital Archives, Bad Arolsen
  • Auszug aus der Korrespondenzakte T/D – 208862, 6.3.3.2. / 88270239, ITS Digital Archives, Bad Arolsen
  • Todeserklärung Josef Ruben Samson, 6.3.3.2. / 88270224, ITS Digital Archives, Bad Arolsen
  • Verzeichnis der 1933 in Aurich wohnhaft gewesenen Juden, Nachkriegsaufstellung, 1.2.5.1 / 12849254
Recherche:

Jörg Peter