Project Description

* 1869
† 17. Oktober 1938

Steubenstraße 19, Weimar

Deutschsein war für mich eine Selbstverständlichkeit

„Meine Einstellung war stets deutsch und national, ich fühlte nur deutsch, und es ist nicht nur in Kunstkreisen Weimars be-kannt, daß mein Leben nur der deutschen Kunst, speziell der deutschen Musik gewidmet war – Deutschsein im Sinne Richard Wagners war für mich eine Selbstverständlichkeit.“

Mit diesen Worten, an das Thüringer Volksbildungsministerium adressiert, reagiert Gustav Lewin im Juli 1933 auf den Verlust seiner Arbeit – einer Arbeit, der er seit 32 Jahren mit Hingabe nachgegangen ist. Sie zeigen sein Unverständnis, als „Nichtarier“ zu gelten und aus dem Betrieb der Musikhochschule Weimar ausgeschlossen zu werden, identifiziert er sich doch mit dem, was für ihn das „Deutschsein“ im Kern ausmacht: die deutsche Kultur, besonders die Musik.

Das „Deutsche“ in der Kultur

Aus seinen Zeilen spricht die Romantik des 19. Jahrhunderts, in deren Weltanschauung Lewin verwurzelt ist. Als einer der einflussreichsten Komponisten der Romantik gilt Richard Wagner.  Dieser verbindet Nationalismus und Kultur unter anderem 1878 in seinem Aufsatz „Was ist deutsch?“. Darin heißt es, dass „das Schöne und Edle nicht um des Vortheils, ja selbst nicht um des Ruhmes und der Anerkennung willen in die Welt tritt: und Alles, was im Sinne dieser Lehre gewirkt wird, ist ‚deutsch‘“.  „Deutsch“ charakterisiere eine Handlungsart, etwas nicht aus Berechnung zu machen, sondern aus Interesse und Freude am Tun. Auch wenn die Interpretation von Richard Wagners Schriften und Werken eine umstrittene Angelegenheit ist – zumal Wagner glühender Antisemit war –, so kann doch zumindest festgehalten werden, dass er „Deutschsein“ nicht anhand biologischer, politischer oder geografischer Maßstäbe bestimmt, sondern dabei ästhetischen Überlegungen zum „Schönen und Edlen“ folgt. So sieht er denn die „deutsche“ Handlungsart vor allem in der Musik umgesetzt, in den Werken von Mozart, Beethoven und Bach – und natürlich seinen eigenen: „Oft habe ich erklärt, daß ich die Musik für den rettenden guten Genius des deutschen Volkes hielte: Sicherer wie hier gab es auf keinem anderem Gebiete die Bestimmung des deutschen Wesens“.

Zwischen Wagners Zeilen klingt es schon an: Die Hinwendung zur Kunst nimmt in der Romantik einen religiösen Zug an. In diesem Sinne notiert auch Lewin in das Erinnerungsbuch einer Schülerin Beethovens Ausspruch: „Musik ist höhere Offenbarung als jede Weisheit und Philosophie“.

Gustav Lewin findet seine Heimat …

Musik kann jedoch nicht nur spirituelle Bedürfnisse erfüllen, sie und generell die Kunst und Kultur zeigen den sich ab dem 19. Jahrhundert langsam emanzipierenden Juden auch einen Weg in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft auf: Bildung ist ein Mittel der gesellschaftlichen Integration und des Aufstiegs. Im Zuge der Assimilation verlieren die jüdische Tradition und der jüdische Glaube für viele Juden an Bedeutung, nicht wenige von ihnen lassen sich schließlich taufen und verstehen sich in erster Linie als „Deutsche“. So auch Gustav Lewin, der 1922 zum Christentum übertritt. Seine eigentliche spirituelle Heimat aber hat er schon viel früher erkannt: 1885, er ist 16 Jahre, beginnt er ein Studium an der Musikhochschule seiner Heimatstadt Berlin. Vier Jahre später geht der junge Kapellmeister auf eine Reise ohne Rast, die ihn während der nächsten elf Jahre von Münster über Lüneburg, Brandenburg, Hannover und Göttingen die Stadttheater des gesamten norddeutschen Raums – mit einem Abstecher nach Regensburg und Nürnberg – erkunden lässt. Die Rastlosigkeit ist vorbei, als er Hedwig Haupt kennenlernt. Für sie, eine junge Sängerin und Tochter des Weimarer Kammermusikers Friedrich Wilhelm Haupt, kommt er nach Weimar und bleibt. Im Mai 1898 heiraten sie.

… und lässt sich nieder

Bei seiner Ankunft findet Gustav Lewin eine Stadt vor, die seinen Vorlieben entspricht: Das bildungsbürgerliche Weimar, das mit einer Tradition der Hochkultur und romantischer Parkidylle aufwarten kann, wird ihm ein Zuhause.

Hedwig Lewin nimmt Gesangsstunden bei Jenny Fleischer-Alt, später gibt sie selbst Unterricht. Gustavs Suche nach einer Anstellung hat ein Ende, als der Gründer und Direktor der Weimarer Orchesterschule Carl Müllerhartung den vielseitig begabten Lewin an die Großherzogliche Musikschule holt. Hier lehrt er
ab 1901 zunächst auf Honorarbasis das Klavierspiel, ab 1906 kommen das Partienstudium, das Zusammen- und Vomblattspiel hinzu, später auch die Leitung des studentischen Opernchors. 1907 kann die Musikschule ihn fest anstellen. Sein dürftiges Gehalt von 1 500 Mark jährlich erhöht sich nach und nach auf noch immer bescheidene 2 500 Mark, doch finden Gustav und Hedwig Lewin damit ein Auskommen.

Jahrzehnte der Musiklehre

Lewin wird bald einer der wichtigsten Lehrer der Musikschule. Er lehrt und begleitet viele Jahrgänge junger Männer und Frauen, die sich der Musik verschreiben wollen. Nebenbei komponiert er selbst, vor allem Lieder und Kammermusik romantischen Stils, vertont Gedichte von Eichendorff und Heine. In einem Gutachten des Verlags Bayer & Mann von 1906 heißt es: „die Lieder sind schön und tief empfunden, nur hin und wieder gesucht u. schwierig […] Das Klavierstück ist brillant“. Lewins Kompositionen werden von mehreren Verlagen herausgegeben und erfreuen sich in Weimar großer Beliebtheit. Unter anderem führt sie die 1912 gegründete Weimarer Vereinigung für zeitgenössische Tonkunst immer wieder auf.

Zu seinem 25-jährigen Dienstjubiläum – Lewin ist inzwischen verbeamtet und zum Musikdirektor ernannt – ehrt ihn die Musikschule in Zusammenarbeit mit dem Nationaltheater mit einem Liederabend, an dem Sänger des DNT seine Kompositionen vortragen, begleitet von ihm selbst.

Während der zwanziger Jahre bemüht sich Lewin mehrmals, zum Professor ernannt zu werden. Doch trotz seines Ansehens, der langen Dienstzeit und der Fürsprache des Direktors Hinze-Reinhold wird seinem Wunsch aus finanziellen Gründen nicht stattgegeben.

Gustav Lewin gilt als zurückhaltender, freundlicher Mensch, doch ist er sich seiner Bedeutung für den Musikschulbetrieb bewusst und fasst den negativen Bescheid als Geringschätzung auf. Es folgen Auseinandersetzungen mit der Musikschulleitung und den Behörden, die ihn allerdings nicht an das ersehnte Ziel bringen.

… und so verstummen seine Lieder

Sein Ehrgefühl muss weitere Kränkungen hinnehmen, als sich im Laufe der zwanziger Jahre und besonders stark ab 1930 antisemitische Angriffe gegen jüdische Künstler häufen. Hans Severus Ziegler, schon seit frühesten Tagen bei der NSDAP, versucht, sich und seinen Gesinnungsgenossen – darunter Ernst Nobbe und Paul Sixt – die wichtigen Posten im Kulturbetrieb Weimars und Thüringens zu sichern, gestärkt durch die Wahlerfolge der NSDAP 1930 und 1932. Damit gehen Versuche einher, missliebige und als „jüdisch“ gebrandmarkte Künstler und Angestellte aus dem Deutschen Nationaltheater und der Hochschule für Musik zu drängen. Doch auch abseits der politischen Entwicklung wird Gustav Lewin das Leben bitter gemacht: Einige Kollegen und Bekannte, mit denen er bisher im künstlerischen Austausch stand, beginnen ihn zu meiden. Verband etwa den Schriftsteller Ernst Ludwig Schellenberg mit Lewin bisher das gemeinsame Interesse an der Romantik, wendet er sich nun von ihm, „dem Juden“, ab und dem nationalsozialistisch gesinnten „Bamberger Dichterkreis“ zu.  Richard Wetz, ein langjähriger Arbeitskollege Lewins, der während dieser Zeit als der bedeutendste in Thüringen lebende Komponist gilt, begeistert sich zu Beginn der dreißiger Jahre für den Nationalsozialismus und versteigt sich schließlich in Äußerungen wie: „Wie himmelweit ich von Subjekten à la Lewin entfernt bin, wie ich kaum noch imstande bin, solche Art Geschöpfe unter die Menschen zu rechnen …“

Der sensible Lewin, der 1930 seinen 61. Geburtstag begeht, vermag solche Beleidigungen nicht einfach wegzustecken. Zu den antisemitischen Feindseligkeiten kommt Ende des Jahres eine Stimmbandlähmung: Seine Stimme ist heiser und brüchig, das Sprechen strengt ihn an und führt zu Atemnot. Der Ausfall seiner Stimme bedeutet für Lewin, dass er in der Musikhochschule nicht mehr als die Hälfte seiner Pflichtstunden übernehmen kann. Mitte 1933 verschlechtert sich diese Situation abermals. Nach der Einführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ist Gustav Lewin als verbeamteter Mitarbeiter der Musikhochschule verpflichtet, einen Fragebogen bezüglich seiner Konfession auszufüllen. Er muss seinen Übertritt vom jüdischen zum christlichen Glauben vor mehr als zehn Jahren erwähnen und wird als „Nichtarier“ zum 1. Oktober 1933 in den Ruhestand versetzt. Sein Nachfolger an der Musikhochschule steht schon in den Startlöchern: Paul Sixt, der dank seiner Nähe zu Ziegler 1939 gar zum Direktor aufsteigt.

Mit seinen 63 Jahren nähert sich Gustav Lewin zwar ohnehin dem Ende seiner Dienstzeit an, doch verletzt ihn die Unwürdigkeit dieser Zwangspensionierung. Ohne Aussicht auf Erfolg protestiert er mit seinem Brief an das Volksbildungsministerium – freilich nicht kämpferisch wie der im selben Jahr vom DNT entlassene Sänger Emil Fischer, doch auf seine höfliche Art mit Verweis auf seine Verdienste bei der Förderung deutscher Musik und damit – nach Wagner – des „deutschen Geistes“.

Dass er versucht, die Behörde umzustimmen, indem er seine Auffassung vom „Deutschsein“ betont – nämlich das Zugehörigkeitsgefühl zur „deutschen“ Kultur –, zeigt, wie abwegig die Hitlersche Propa­ganda von Blut und Boden ihm wohl erscheint.

Auch der langjährige Direktor der Musikhochschule Hinze-Reinhold verlässt – allerdings freiwillig – sein Amt 1933. Ein Jahr darauf wird Felix Oberborbeck sein offizieller Nachfolger. In seiner Antrittsrede wagt dieser, öffentlich zu bedauern, dass einige Musiker von Rang und Bedeutung – der jüdische Violinist Hans Bassermann, der mit einer Jüdin verheiratete und dem Jazz aufgeschlossene Ernst Praetorius und auch der altgediente Lehrer und Komponist Gustav Lewin – nicht mehr an der Hochschule beschäftigt sind. Auch besucht er letzteren zu Hause in der Kaiserin-Augusta-Straße 19 (heute: Steubenstraße 19). Eine gewisse Wertschätzung und finanzielle Unterstützung durch Tantiemen erhält Gustav Lewin durch die weiteren Aufführungen seiner Kompositionen, auch als sie schon verboten sind. Doch als „Jude“ ist er bei Konzerten, in Cafés, überhaupt in seiner Stadt nicht mehr „erwünscht“; 1937 verstummen seine Lieder in Weimar.

Die Verweigerung, so zu leben

Bei Gustav Lewin geht der Versuch der Nazis, die Gesellschaft zu spalten und „Nichtarier“ zu isolieren und somit zu brechen, bestens auf: Sein Ausschluss aus dem musikalischen Leben Weimars ist ein Angriff auf seine Identität, eine Vertreibung aus seiner Heimat. So konstatiert dann auch der heutige Präsident der Musikhochschule, Christoph Stölzl, bei der Verlegung des Stolpersteins für Gustav Lewin: „Er hat dann [nach seiner Pensionierung] hier still gelebt, ist vereinsamt und hat die Vertreibung aus seiner angestammten, heißgeliebten deutschen Kultur als ganz persönliche Tragödie erfahren.“

Bruno Hinze-­Rein­hold, der Direktor der Musikhochschule bis 1933, beschreibt in seinen Erinnerungen, was in der Stadt über Gustav Lewins Ende erzählt wurde: „Nach seinem Ausscheiden soll es dem armen Kerl durch die Naziwelle sehr schlecht gegangen sein. Aus seiner Stellung war er längst schon herausgeworfen worden, und schließlich weigerten sich auch die entmenschten Kaufleute, ihm Heizungsmaterial zu liefern. So ist er denn elendiglich eingegangen, verhungert und erfroren.“

Verhängnisvoll wirkt sich 1938 eine spät­sommerliche Begegnung des alten Mannes mit einer ehemaligen Schülerin aus. Im Vorbeigehen zieht er den Hut zum Gruß und wird daraufhin von dem Begleiter der Frau, einem SS-Angehörigen, angeherrscht, er wünsche nicht, von einem Juden gegrüßt zu werden. Dieses Erlebnis nimmt Gustav Lewin den letzten Lebenswillen.

Die mit den Lewins entfernt verwandte Margarete Vogler erinnert sich, dass Hedwig Lewin kurz nach diesem Vorfall Karl Vogler, Margaretes Vater, in die Wohnung bittet. Hedwig fühlt sich hilflos angesichts der Verzweiflung und Bettlägerigkeit ihres Mannes. Karl Vogler solle dem gebrechlichen alten Mann helfen, sich aufzurichten. Auch Hedwigs Schwester ist da und meint: „Ihr müsst doch dem Gustav was Kräftiges geben, dass er ein bisschen auf die Beine kommt.“ Leise fügt sie hinzu: „Karl, er will ja sterben.“

Doch die Sorge seiner Familie kann nichts mehr ausrichten: Gustav Lewin verweigert die Nahrungsaufnahme und stirbt am 17. Oktober 1938.

Quellen:
  • Erika Müller, Harry Stein: Jüdische Familien in Weimar, Stadtmuseum Weimar 1998
  • Bernhard Post: Kulturverlust, Friedrich-Ebert-Stiftung, Weimar 2002
  • Glasenapp, Wagner: Wagner-Enzyklopädie, Bd. 1, Olms, Hildesheim 1977
  • Stefanie Hein: Richard Wagners Kunstprogramm im nationalkulturellen Kontext, Königshausen & Neumann, Würzburg 2006
  • Interview mit Margarete Vogler 1970, Archiv der Hochschule für Musik Weimar
  • http://www.komponisten.at/komponisten/228.html (11.05.2016)
  • Bildmaterial: Archiv der Hochschule für Musik Weimar